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Flucht, Vertreibung und Hunger

Flucht, Vertreibung und Hunger

 

 


   
Von Laura Hammond,
Professorin für Development Studies, SOAS University of London
Oktober 2018
Foto: Welthungerhilfe/Daniel Pilar 2017; Flüchtlinge der Rohingya aus Myanmar überqueren die Grenze nach Bangladesch im November 2017. Ausblenden

Ein Junge springt über einen Weg im Rohingya-Flüchtlingslager Kutupalong in Bangladesch. Das Land hat fast eine Million staatenlose Rohingya aus Myanmar aufgenommen. Weltweit haben 85 Prozent aller Vertriebenen in Ländern mit niedrigem oder mittlerem Einkommen Zuflucht gefunden.

Foto: Welthungerhilfe/Daniel Pilar 2017; Ausblenden
Anmerkung: Dieses Kapitel gibt Ansichten der Autorin wieder, die nicht notwendigerweise den Ansichten von Welthungerhilfe oder Concern Worldwide entsprechen. Bei der deutschen Fassung handelt es sich um eine leicht gekürzte Version des englischen Originaltextes.

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Häufige Fehlannahmen über Flucht, Vertreibung und Hunger
- Dr. Laura Hammond, SOAS University

Auf der ganzen Welt sehen sich zahlreiche Menschen gezwungen, ihr Zuhause zu verlassen (Abbildung 3.1). Schätzungsweise 68,5 Millionen Menschen sind weltweit auf der Flucht, darunter 40 Millionen Binnenvertriebene, 25,4 Millionen Flüchtlinge und 3,1 Millionen Asylsuchende (UNHCR 2018g).

Diese Gruppen haben keine andere Wahl, als vor Konflikten, Gewalt, Naturkatastrophen oder von Menschen verursachten Katastrophen an sichere Orte zu fliehen, an denen sie sich und ihre Familien ernähren können. Die meisten Menschen fliehen aufgrund mehrerer interagierender Faktoren, wobei Hunger oft eine wichtige Rolle spielt. Hunger ist eine anhaltende Gefahr, die das Leben zahlreicher vertriebener Menschen (engl. displaced persons) bedroht und Einfluss auf die Entscheidungen hat, wann und wohin sie fliehen.

Im Camp leben 6.790 Menschen in Notunterkünften aus ästen und Plastikplanen. Wir alle leiden im Lager. Ich kam mit nichts außer der Kleidung, die ich trug. Es gibt zu wenig Nahrung, zu wenig Wasser und zu wenige Medikamente, um die Kranken zu behandeln.Eine Binnenvertriebene in einem Flüchtlingscamp in der Demokratischen Republik Kongo im März 2018

In Konfliktzeiten kann Hunger sowohl Ursache als auch Folge von Flucht und Vertreibung sein. Betroffene erleben diese Konflikte nicht nur als direkte Bedrohung für ihr Leben, sondern auch als Angriff auf ihre Existenzgrundlagen. Hunger kann die Fähigkeit von Menschen untergraben, für ihre Grundbedürfnisse, einschließlich Nahrung, zu sorgen. Konflikte können überdies die Bewegungsfreiheit von Menschen und ihren Zugang zu Märkten, Ackerland und Arbeitsplätzen einschränken. Wenn sie nicht die Nahrungsmittel produzieren können, die sie zum überleben brauchen, oder nicht genug Einkommen für den Kauf dieser Nahrungsmittel erzielen, ist ihre Ernährungssicherheit in Gefahr. Einige Menschen schaffen es, mit dem Großteil ihrer Ersparnisse oder ihres Vermögens in sichere Gebiete zu fliehen, und sind vor ihrer Flucht nicht unmittelbar von Hunger bedroht. Andere haben nicht so viel Glück: Zum Zeitpunkt der Flucht haben sie bereits ihr gesamtes Hab und Gut aufgeben müssen. Wieder andere werden mehrfach vertrieben, wobei jeder weitere erzwungene Aufbruch ihre Widerstandsfähigkeit, ihre Existenzgrundlage und ihre Ernährungssicherheit weiter schmälert.

Bestimmte Krisen stellen ohnehin schon arme Regionen vor enorme Herausforderungen, sowohl im Hinblick auf Hunger als auch auf Vertreibung. Durch den bereits sieben Jahre andauernden Syrienkrieg wurden mehr als 6,7 Millionen Menschen innerhalb des Landes vertrieben, mehr als fünf Millionen Flüchtlinge mussten in die Nachbarländer ausweichen (IDMC 2018d; UNHCR 2018j). Vier Millionen Hilfsbedürftige waren infolgedessen auf Unterstützung in Aufnahmegesellschaften angewiesen (UNHCR 2017b). Seit dem Zusammenbruch des somalischen Staates im Jahr 1991 wurden mehr als 1,5 Millionen Menschen innerhalb der Landesgrenzen vertrieben, während eine weitere Million als Flüchtlinge in der Region leben (UNHCR 2018h). Die kürzlich wieder aufgeflammten Kämpfe im Südsudan haben zu mehr als 2,4 Millionen Flüchtlingen und 1,7 Millionen Binnenvertriebenen geführt (UNHCR 2018i). Diese Krisen haben die Region am Horn von Afrika stark unter Druck gesetzt. 95 Prozent der 2,6 Millionen afghanischen Flüchtlinge haben in nur zwei Ländern Schutz gefunden – im Iran und in Pakistan (UNHCR 2018a). Die seit Langem schwierige Lage der staatenlosen Rohingya aus Myanmar hat sich mit fast einer Million Flüchtlingen dramatisch zugespitzt. Viele von ihnen leiden unter akuter Ernährungsunsicherheit, Krankheiten und den Folgen körperlicher Gewalt und suchen Schutz in Cox’s Bazar in Bangladesch, wo das am dichtesten besiedelte Flüchtlingslager der Welt entstanden ist (Safi 2018).

So unterschiedlich diese Fälle auch sind, sie weisen doch eine Reihe von Gemeinsamkeiten auf. In jeder der genannten Krisen fliehen die Menschen vor Zuständen, die einen Verbleib an Ort und Stelle unzumutbar machen. Ihr Zugang zu Grundnahrungsmitteln und anderen lebensnotwendigen Gütern und Dienstleistungen ist in Gefahr. Obwohl vertriebene Menschen einen wertvollen Beitrag für die lokale Wirtschaft und die Aufnahmegemeinden leisten können und dies auch häufig tun, können sie allein aufgrund ihrer Anzahl und benötigten Unterstützung die Gesellschaften, Regierungen und Regionen, die sie aufgenommen haben, immens belasten; besonders dann, wenn humanitäre Hilfe fehlt oder unzureichend ist. Trotzdem sollten die mit der Aufnahme von Flüchtlingen einhergehenden Kosten für die Aufnahmegesellschaft nicht überschätzt werden. Wie Maystadt und Breisinger in ihrem Bericht über die Aufnahme von Flüchtlingen feststellen, „können die Auswirkungen von Flüchtlingszuflüssen in Entwicklungsländern positiv sein, wenn es ausreichend Unterstützung von Gebern gibt“ (2015, 3).

Eine Analyse des Zusammenspiels von Hunger und Flucht unter Berücksichtigung der Folgen, die Hunger für das Leben von Vertriebenen hat, offenbart vier geläufige Fehlannahmen. Diese halten sich hartnäckig und beeinflussen nach wie vor die Politik, obwohl sie nachweislich unzutreffend sind. Sie behindern die Bekämpfung von Fluchtursachen, die Versorgung der Menschen über die gesamte Dauer ihrer Vertreibung und die Erarbeitung wirksamer Lösungen.

Dieser Essay beleuchtet jede dieser Fehlannahmen kritisch und plädiert für die folgenden Strategien, um die Problemstellung zu verstehen und anzugehen:

  1. HUNGER UND VERTREIBUNG sollten als politische Probleme begriffen und behandelt werden.
  2. HUMANITäRE HILFE ALLEIN ist keine angemessene Reaktion auf Flucht und Vertreibung, vielmehr sind ganzheitlichere Ansätze erforderlich, einschließlich Entwicklungszusammenarbeit.
  3. VON ERNäHRUNGSUNSICHERHEIT BEDROHTE Vertriebene sollten in ihren Herkunftsregionen unterstützt werden.
  4. UNTERSTüTZUNGSLEISTUNGEN sollten immer auf der Resilienz der Vertriebenen selbst basieren, die nie vollkommen verloren geht.

Insgesamt sind die derzeit eingesetzten Instrumente, mit denen den Herausforderungen von Flucht und Vertreibung begegnet wird, unzureichend, da sie sich auf technische, kurzfristige humanitäre Hilfsmaßnahmen konzentrieren, die politische ökonomie von Vertreibung und die längerfristigen Bedarfe von Vertriebenen hingegen außer Acht gelassen werden.

Dieser Aufruf, die weltweite Herangehensweise zur Bekämpfung von Flucht, Vertreibung und Hunger neu auszurichten, ist gerade jetzt hoch relevant. Gemäß den Zielen für nachhaltige Enwicklung (Sustainable Development Goals – SDGs) gilt die Prämisse „Niemanden zurücklassen“, und mit SDG 2 hat sich die Welt verpflichtet, den Hunger bis 2030 zu beenden. Für Regionen, die Millionen Vertriebene aufgenommen haben, sind die Aussichten für die Realisierung dieser Ziele allerdings gering, solange sie sich nicht damit auseinandersetzen, wie Vertriebene integriert werden können. Im September 2018 wurde der Global Refugee Compact, ein nicht bindendes Abkommen, von der UN-Vollversammlung ratifiziert. Dieses Abkommen soll die internationale Gemeinschaft zusammenbringen, um eine langwährende Lücke im internationalen System zum Schutz von Flüchtlingen zu schließen: eine nachvollziehbare und gerechtere Verteilung von Lasten und Verantwortlichkeiten zwischen Staaten und anderen Akteuren (UNHCR 2018f). Darüber hinaus wurde im Mai 2018 anlässlich des 20-jährigen Bestehens der Guiding Principles on Internal Displacement der Aktionsplan zur Förderung von Prävention, Schutz und Lösungskonzepten für Binnenvertriebene 2018–2020 verabschiedet (Global Protection Cluster 2018). Fortschritte in diesen Bereichen sind jedoch nur möglich, wenn wir genaue Kenntnisse über die Ursachen und Folgen von Hunger und Vertreibung besitzen.

 

Hunger und Flucht sind politische Probleme

Foto: Daniel Rosenthal/Welthungerhilfe. Frauen waten durch schmutziges Wasser und tragen Wasserkanister im Flüchtlingscamp in Malakal, Südsudan. Ausblenden
 

Hunger wird oft als Folge umweltbedingter oder natürlicher Ursachen verstanden. Viele AnalytikerInnen führten die Hungersnot 2011 in Somalia beispielsweise auf die „schlimmste Dürre seit 60 Jahren“ (BBC 2011) zurück anstatt auf das komplexe Zusammenspiel von gewaltsamem Konflikt und der Blockade humanitärer Zugangswege und Fluchtkorridore – Faktoren, die in Verbindung mit der Dürre und der extremen Not der Menschen in landwirtschaftlich und agro-pastoral geprägten Gebieten Süd- und Zentralsomalias zu massenhaftem Hungertod führten.

Hunger ist – genau wie Vertreibung – in der Regel das Ergebnis politischer Prozesse. Naturkatastrophen wie Dürren, überschwemmungen und extreme Wetterereignisse führen nur dann zu Hunger und Vertreibung, wenn Regierungen nicht vorbereitet oder nicht willens sind zu reagieren, weil ihnen entweder die Kapazitäten fehlen oder sie Hilfeleistungen vorsätzlich unterlassen beziehungsweise ihre Macht missbräuchlich einsetzen. Dürre zum Beispiel ist eine langsam einsetzende Katastrophe, die sich über mehrere Jahre hinweg entwickelt. Mit angemessenen Frühwarnund Reaktionssystemen und der nötigen Dosis politischen Willens müssen Dürren keinesfalls zu Hunger und Hungersnot führen.

Wie Alex de Waal in seinem Aufsatz für den Welthunger-Index-Bericht 2015 betonte, gehören große Hungersnöte der Vergangenheit an (von Grebmer et al. 2015). Regierungen sind zunehmend in der Lage, Krisensituationen vorauszusehen, die einst für Millionen Menschen den Hungertod bedeuteten, sich darauf vorzubereiten, sie zu verhindern oder einzudämmen; außerdem sind sie rechenschaftspflichtig gegenüber ihren Bürgerinnen und Bürgern, die von ihnen erwarten, entsprechende Maßnahmen zu ergreifen. Frühwarnsys - teme, Nahrungsmittelreserven für Notsituationen, Strategien zum Schutz und Aufbau von Ressourcen, Risikoversicherungen und Beschäftigungsprogramme sind nur einige Mechanismen, mit denen sichergestellt werden kann, dass Menschen nicht verhungern, die von Naturkatastrophen, wirtschaftlichen Notlagen, Konflikten oder Gewalt betroffen sind. Außerdem, so argumentiert Amartya Sen, sind Regierungssysteme, die gegenüber ihrer Wählerschaft Rechenschaft ablegen müssen – aufgrund einer freien Presse, demokratischer Partizipation und transparenter Regierungsführung –, weitaus stärker bemüht, Hunger unter ihrer Regierungsverantwortung zu vermeiden, um nicht von ihren WählerInnen abgestraft zu werden (Sen 2001).

Dieses Argument kann auch auf nichtstaatliche Akteure ausgeweitet werden, die Regierungsaufgaben auf lokaler oder nationaler Ebene übernehmen wollen. Zeigen sie die Fähigkeit und Bereitschaft, Hunger und Vertreibung zu verhindern, und handeln sie als nichtstaatlicher Akteur wie ein verantwortlich agierender Staat, können sie so UnterstützerInnen gewinnen.

Dessen ungeachtet sind Hunger und seine extremste Form – Hungersnot – weiterhin stark verbreitet, oftmals aufgrund gezielter Politik, Fahrlässigkeit oder mangelnder Kapazitäten, wodurch den Menschen der Zugang zu den benötigten Ressourcen versperrt ist. Die Schuld an der Entstehung von Hunger kann in vielen Fällen Individuen oder Institutionen zugeschrieben werden (Edkins 2008; Menkhaus 2012). Die Länder mit der schlimmsten Hungersituation im Jahr 2018 sind zugleich jene, die von Konflikten, politischer Gewalt und Vertreibung betroffen sind.

Von Katastrophen heimgesuchte Bevölkerungen sind oft einem erhöhten Hungerrisiko ausgesetzt, unabhängig davon, ob sie zur Flucht oder zum Verbleib gezwungen sind. Die fluchtauslösenden Faktoren verhindern auch den Zugang zu Nahrung. Menschen, die davon abgehalten werden, zu arbeiten, sich in ihrer Heimat frei zu bewegen, ihre geernteten Produkte auf dem Markt zu verkaufen oder grundlegende Dienstleistungen in Anspruch zu nehmen, haben große Schwierigkeiten, sich und ihre Familien mit ausreichend Nahrungsmitteln zu versorgen. Trotz dieser Risiken können sie manchmal nicht fortziehen, weil es zu gefährlich wäre oder weil sie es sich nicht leisten können. Unter den ZivilistInnen, die im Jahr 2018 in Syrien und im Jemen Hunger leiden, finden sich sowohl Binnenvertriebene als auch durch Belagerungen Eingeschlossene. In Syrien konnte sich 2016 jede dritte Person, die vertrieben worden war oder unter Belagerung lebte, keine Grundnahrungsmittel leisten; Binnenvertriebene waren die gefährdetste Bevölkerungsgruppe des Landes (Lovelle 2016). Human Appeal berichtet, dass sich im Jemen „der Household Hunger Scale (HHS – ein Maßstab für die Messung von Hunger in Haushalten) seit 2014 fast verdreifacht hat, da die Menschen in 40 Prozent der jemenitischen Haushalte hungrig schlafen gehen und fast 20 Prozent erklärten, bisweilen einen ganzen Tag lang nichts zu essen zu haben“ (Human Appeal 2018, 15).

Das humanitäre Völkerrecht verbietet den Einsatz von Nahrungsentzug oder Hunger als Kriegswaffen. Demnach ist es außerdem verboten, „Nahrungsmittel, zur Erzeugung von Nahrungsmitteln genutzte landwirtschaftliche Gebiete, Ernte- und Viehbestände, Trinkwasserversorgungsanlagen und -vorräte sowie Bewässerungsanlagen anzugreifen, zu zerstören, zu entfernen oder unbrauchbar zu machen, um sie wegen ihrer Bedeutung für den Lebensunterhalt der Zivilbevölkerung oder der gegnerischen Partei vorzuenthalten, gleichviel ob Zivilpersonen ausgehungert oder zum Fortziehen veranlasst werden sollen oder ob andere Gründe maßgebend sind“ (Additional Protocol I to the Geneva Conventions, 1977: Article 54(2)). Dieses Verbot wurde in der im Mai 2018 verabschiedeten Resolution 2417 des UN-Sicherheitsrats zu Hunger und Konflikten bekräftigt, in der das Aushungern von ZivilistInnen und die rechtswidrige Verweigerung des Zugangs zu humanitärer Hilfe als Kriegstaktik verurteilt werden. Allerdings finden regelmäßig Verstöße gegen das Völkerrecht statt, und es ist eine gängige Methode staatlicher und nichtstaatlicher Akteure, Menschen hungern zu lassen.

Diese Taktik wurde auch 2011 in Somalia angewandt, wo Dürre, Konflikte, fehlender Zugang zu humanitärer Hilfe und die weltweit hohen Nahrungsmittelpreise zu einer tödlichen Katastrophe führten, in deren Folge schätzungsweise mehr als 250.000 Menschen starben (LSHTM und Johns Hopkins University 2013). Ein die Hungersnot verschärfender Faktor war das Vorgehen der Rebellenmiliz Al-Shabaab, die Menschen daran hinderte, die von der Dürre am stärksten betroffenen Gebiete zu verlassen, weswegen sie die Lager für Binnenvertriebene in der Hauptstadt Mogadischu oder die Flüchtlingslager im kenianischen Dadaab nicht erreichen konnten (Menkhaus 2012; Maxwell und Majid 2016). Die Miliz behauptete, dass sie die Abhängigkeit der Dürreopfer nicht fördern wolle und dass es besser sei, den Menschen in der Nähe ihrer Heimat zu helfen, damit sie so schnell wie möglich wieder arbeiten könnten. Mit dieser Strategie sollte die Unterstützerbasis der Al-Shabaab in den ländlichen Gebieten erhalten werden, denn sie verhinderte, dass die Menschen in die Regierungshochburgen in den urbanen Zentren flüchteten – eine Maßnahme, die im Allgemeinen erfolglos war und das Leid derer verschlimmerte, die nicht in der Lage waren, das Gebiet zu verlassen. Gleichzeitig blockierte die somalische übergangsregierung (Transitional Federal Government – TFG) den Zugang von Hilfsorganisationen zu Gebieten, die von der Al-Shabaab kontrolliert wurden. Laut Menkhaus „wurden auch humanitäre Organisationen von der TFG angegriffen, die sie beschuldigte, Nahrungsmittelhilfe zu kanalisieren und mit ‚dem Feind‘ zusammenzuarbeiten. Bei vielen Zwischenfällen, von denen Hilfsorganisationen betroffen waren, bestand der Verdacht, dass sie vielmehr von TFG-Beamten und ihren Paramilitärs verübt worden waren und nicht von der Al-Shabaab. Das Umfeld des Einsatzes war daher nicht nur wesentlich gefährlicher und restriktiver, sondern auch unvorhersehbarer“ (Menkhaus 2012, 32).

Solche Vorkommnisse verdeutlichen, dass bei der Reaktion auf Vertreibungen auch die zugrunde liegenden politischen Faktoren berücksichtigt werden müssen. Auf allen Ebenen müssen Maßnahmen zur Konfliktverhütung und Friedensstiftung unterstützt werden, ebenso wie Regelungen zur Stärkung der Rechenschaftspflicht und Transparenz der Regierungsführung, damit sich Regierungen nicht so einfach ihrer Pflicht entziehen können, die Grundbedürfnisse ihrer BürgerInnen nach Schutz und Ernährungssicherheit zu befriedigen.

Humanitäre Hilfe allein ist keine angemessene Reaktion auf Flucht und Vertreibung

Foto: Daniel Rosenthal/Welthungerhilfe. Im Flüchtlingscamp in Malakal, Südsudan: Frauen kehren am Abend in die UNMISS-Base zurück, tagsüber arbeiten sie außerhalb des Camps, um ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Ausblenden

 

Die internationale Gemeinschaft reagiert auf Flucht und Vertreibung fast immer ausschließlich mit humanitärer Hilfe. Kommt es zu einer Vertreibungskrise, werden humanitäre Maßnahmen für Flüchtlinge und Binnenvertriebene eingeleitet, um Leben zu retten und grundlegende Bedürfnisse wie Obdach, ärztliche Hilfe, Wasser- und Sanitärversorgung sowie Ernährungssicherheit zu gewährleisten. Diese Nothilfe soll Menschen vor drohendem Tod, Krankheit und Hunger schützen. Sie kann dazu beitragen, eine kritische Situation zu stabilisieren und kurzfristig viele Leben zu retten, insbesondere das Leben derjenigen, die durch die Strapazen der Vertreibung und der Flucht in sichere Gebiete geschwächt sind.

Humanitäre Hilfe ist nicht darauf ausgerichtet, Menschen langfristig zu unterstützen. Flüchtlinge erhalten Nothilfe, damit ihre grundlegenden Bedürfnisse gedeckt werden, häufig in der Hoffnung und Erwartung, dass sie in Kürze in ihre Herkunftsgebiete zurückkehren können. Diese Annahme hat sich immer wieder als irreführend erwiesen, da die Menschen oft jahrelang vertrieben bleiben. Vertreibung ist meistens ein lang anhaltender Zustand, dem die Menschen über viele Jahre – sogar über Generationen – ausgesetzt sind. Schätzungsweise wurden mehr als 80 Prozent der 22 Millionen Flüchtlinge weltweit bereits vor mehr als zehn Jahren und 40 Prozent sogar vor mehr als 20 Jahren vertrieben. Die durchschnittliche Dauer der Vertreibung beträgt derzeit 26 Jahre (UNHCR 2017a). Selbst dort, wo Menschen in relativ nahe Gebiete vertrieben werden und manchmal in ihre Heimat zurückkehren können, wie im Südsudan, verhindern die Dynamik der Gewalt und die Unvorhersehbarkeit der Angriffe, dass die Vertriebenen langfristig zurückkehren.

Langzeitvertreibung ist sowohl ein politisches Problem als auch eines der Entwicklung. Da sie jedoch nicht so verstanden wird, bekommen Vertriebene nicht die Chance, ihren Lebensunterhalt auf eine Weise zu sichern, die sie vor Hunger schützt und widerstandsfähiger gegen externe Schocks macht. In Flüchtlingsunterkünften sind Nahrungsmittelrationen und Bargeldunterstützung minimal, und nach Ende der ersten Notfallphase treten häufig durch Mikronährstoffmangel verursachte Krankheiten auf, wie etwa Eisenmangelanämie, Vitamin-A-Mangel, Pellagra (Niacinmangel) und Skorbut (Vitamin-C-Mangel) (Seal und Prudhon 2007).

Mobilität, rechtlicher Status, Zugang zu Dienstleistungen und Beschäftigungsmöglichkeiten bleiben für die Vertriebenen eingeschränkt und damit prekär. Oft sind diese nicht in den Arbeitsmarkt integriert, besitzen keine Ressourcen wie Land oder Vieh und haben keinen verlässlichen Zugang zu erschwinglicher Bildung, Gesundheitsversorgung oder anderen Dienstleistungen. Verwandte und Nachbarn können nicht wie in der Heimat einfach um Hilfe gebeten werden, wenn die gesamte Gemeinschaft aus denselben Gründen vertrieben wurde oder wenn Menschen ohne dieses soziale Netzwerk fortgezogen sind. Darüber hinaus können humanitäre Instrumente, die zur Verhütung und Bekämpfung von Hunger unter den vertriebenen oder von Vertreibung bedrohten Menschen eingesetzt werden, diesen oft nicht aufhalten, da sie langfristige Dynamiken und Auswirkungen von Vertreibung nicht berücksichtigen. Außerdem gehen sie die Ursachen von Hunger nicht adäquat an, was zur Folge hat, dass sich Betroffene nicht ausreichend erholen können, um zukünftigen externen Schocks standzuhalten.

Am Horn von Afrika können sich somalische Flüchtlinge, die in kenianischen Flüchtlingscamps leben, außerhalb der Lager nicht frei bewegen; dementsprechend fehlt ihnen nicht nur der Zugang zu Land und Vieh, sondern auch zu den meisten anderen Beschäftigungsformen. In Somalia lebende Binnenvertriebene sind ähnlich eingeschränkt, nicht aufgrund von Gesetzen, sondern wegen extremer Marginalisierung und Armut; sie haben keinen Zugang zu einer dauerhaften Beschäftigung und können aufgrund der anhaltend unsicheren Lage oftmals nicht in ihre Herkunftsgebiete zurückkehren.

Obwohl die Notwendigkeit erkannt wurde, Langzeitvertreibung als Entwicklungsproblem zu begreifen, wurden bisher nur wenige Gegenmaßnahmen eingeleitet. Auf dem World Humanitarian Summit (WHS) im Jahr 2016 wurde ein neuer Ansatz gefordert, um „sowohl die humanitären als auch die entwicklungspolitischen Herausforderungen von Vertreibung anzuerkennen“ (WHS 2016). In einer Folgeinitiative zum WHS mit dem Titel „The Grand Bargain“ verpflichteten sich die Länder, „die Zusammenarbeit zwischen humanitären und entwicklungspolitischen Akteuren zu verstärken“ (UN OCHA 2018). Mehrere Programme wurden entwickelt, um humanitäre und entwicklungspolitische Aktivitäten für Vertriebene zu koordinieren – darunter die EU-Maßnahmen zur Verknüpfung von Soforthilfe, Rehabilitation und Entwicklung (LRRD) (EU 2012) sowie der Aktionsplan für Ernährungssicherheit in Langzeitkrisen des Ausschusses für die Welternährungssicherung (CFS 2015). Derzeit gibt es jedoch keinen wirksamen Ansatz für den übergang von humanitärer Hilfe zu einer stärker entwicklungsorientierten Unterstützung. Die Mittel für die entwicklungsorientierte Unterstützung Langzeitvertriebener – Personen, deren Vertreibung mindestens fünf Jahre andauert – sind knapp. Mithin erhalten Flüchtlinge und Binnenvertriebene keine ausreichende (und bisweilen überhaupt keine) Unterstützung dabei, ihr Leben wieder selbst in die Hand zu nehmen. Dies führt dazu, dass sich Nothilfemaßnahmen über Jahre erstrecken, denn Langzeitvertreibung bewirkt zwangsläufig eine chronische Anfälligkeit der Vertriebenen für Hunger und Not. Sie sind auf externe Unterstützung für ihre Ernährung und andere Grundbedürfnisse des Lebens angewiesen. Stehen diese Ressourcen nicht ausreichend zur Verfügung, können die Menschen von den Folgen von Ernährungsunsicherheit bedroht sein.

Langzeitvertreibung nimmt zu und spiegelt damit das vergangene und aktuelle politische Scheitern auf vielen Ebenen wider. In diesem politischen Vakuum war und ist humanitäre Hilfe die Standardreaktion. Doch die Belastung dieses humanitären Hilfssystems nimmt von Jahr zu Jahr zu, da immer mehr Notsituationen auftreten und die Kluft zwischen zugesagten und tatsächlich bereitgestellten Mitteln wächst. Zwar belief sich das weltweite Budget für humanitäre Hilfe im Jahr 2017 auf etwas mehr als 27 Milliarden US-Dollar, trotzdem vermeldeten die Vereinten Nationen ein Finanzierungsdefizit von 41 Prozent (Development Initiatives 2018). Solche Finanzierungslücken führen nicht nur zu einer erheblichen überlastung der Budgets für humanitäre Hilfe. Sie verringern auch die Fähigkeit, in Bemühungen zur langfristigen überwindung der chronischen Ernährungsunsicherheit zu investieren, beispielsweise durch die Förderung wirtschaftlicher Existenzgrundlagen und durch Resilienzaufbau.

Ein ganzheitlicherer Ansatz würde auch den Aufnahmegesellschaften Vorteile bringen. Vertreibung kann die Ernährungsunsicherheit in der Aufnahmebevölkerung erhöhen, die mit ihren vertriebenen Verwandten und Nachbarn das teilt, was sie hat. In manchen Fällen sind die aufnehmenden Personen ihrerseits ehemalige Vertriebene, die für die aktuell Vertriebenen nicht unbegrenzt sorgen können – oder sogar selbst wieder fortziehen müssen, wenn ihnen die gemeinsam genutzten Ressourcen ausgehen, was zu „überlappenden Vertreibungen“ führt (Fiddian-Qasmiyeh 2016). In Kenia waren die Familien, die nach den Wahlen 2007 Vertriebene aufnahmen, zunächst noch großzügig, doch am Ende „hatten sie selbst damit zu kämpfen, über die Runden zu kommen, besonders wegen der grassierenden Inflation und hoher Nahrungsmittelkosten“ (Brookings- LSE 2013, 13). In anderen Fällen, wie bei Binnen vertriebenen in Kolumbien, werden die Beziehungen zwischen Aufnehmenden und Vertriebenen durch den Wettbewerb um Ressourcen belastet (Arredondo et al. 2011; Brookings-LSE 2013).

Hungergefährdete Vertriebene sollten in ihren Herkunftsregionen unterstützt werden

Foto: Dominik Asbach/Welthungerhilfe. Ein Vater und sein Sohn in einer informellen Siedlung für Binnenvertriebene in Kabul, Afghanistan (2013). Ausblenden

Die große Anzahl an Flüchtlingen und Migranten, die insbesondere seit 2015 in die Europäische Union einreisten, hat viele politische Entscheidungsträger umgetrieben. Diese große Aufmerksamkeit hat jedoch ein irreführendes Bild der weltweiten Flüchtlingskrise erzeugt. Im Jahr 2015 kamen mehr als eine Million Menschen über extrem gefährliche See- und Landwege in die EU. Selbst auf dem Höhepunkt im Jahr 2015 machten Flüchtlinge nach Europa jedoch nur etwa sechs Prozent der weltweiten Flüchtlinge aus (UNHCR 2016). Hunger spielt indes für nach Europa Fliehende kaum eine Rolle. Reisen durch mehrere Länder nach Europa sind kostspielig und für Menschen, denen es an grundlegenden Ressourcen zur Deckung ihres unmittelbaren Nahrungsmittelbedarfs mangelt, nicht zu bezahlen. Die Situation gestaltet sich in den Vereinigten Staaten ähnlich: Die Frage, wie mit der Ankunft von Vertriebenen umzugehen ist, wird in den Medien und in der Politik zwar umfassend thematisiert, aber die tatsächliche Zahl der Migranten ist im weltweiten Vergleich ziemlich gering.

Im Gegensatz dazu suchen Menschen, die mit Ernährungs- unsicherheit konfrontiert sind, den nächstmöglichen Ort auf, an dem sie sicher sind. So zeigte sich beispielsweise am Horn von Afrika im Jahr 2017, dass die regionale Ernährungskrise nicht zu einem starken Anstieg der Flucht in den Jemen und nach Saudi-Arabien geführt hat, sondern primär in städtische Gebiete (EUTF REF 2018).

 

Menschen, die von Ernährungsunsicherheit betroffen sind, ziehen meistens in die nächste Stadt oder über die Staatsgrenze zum nächsten Flüchtlingslager oder Wirtschaftszentrum, weil sie es sich oft nicht leisten können, weiter fortzugehen. Möglich ist auch, dass sie in der Nähe ihrer Heimat bleiben, um soziale Netzwerke zu pflegen und ihre landwirtschaftlichen, pastoralen oder Handelsaktivitäten aufrechtzuerhalten. Ein weiterer Grund können ethnische, religiöse oder sprachliche Affinitäten sein. Dies bedeutet jedoch nicht, dass die Anstrengungen zur Eindämmung des Hungers und zur Bekämpfung der Treiber für Flucht nichts miteinander zu tun hätten oder dass es keinen dringenden Handlungsbedarf für die europäischen Regierungen gäbe. Es zeigt vielmehr, worauf der Fokus dieser Bemühungen gerichtet werden sollte.

Die Zahl der Vertriebenen in den großen Flüchtlingslagern der Welt – mit Flüchtlingen aus Afghanistan, Myanmar, Somalia, dem Südsudan und Syrien – ist weitaus größer als jene der nach Europa Geflüchteten. Diese Lager befinden sich zudem in ärmeren Regionen, die nur eine begrenzte Anzahl Vertriebener aufnehmen können (Abbildung 3.2 zeigt, dass neue Vertriebene in der Regel in den Herkunftsregionen verbleiben). Von den 20 Ländern mit den niedrigsten Human-Development-Index-Werten sind zurzeit oder waren vor Kurzem 16 von Vertreibung und/oder der Aufnahme von Flüchtlingen betroffen (UNDP 2017). Zudem fallen alle entweder in die Kategorien ernst, sehr ernst oder gravierend des diesjährigen WHI oder es fehlen ausreichende Daten; in jedem Fall besteht bei ihnen nach wie vor Anlass zu großer Sorge.

Internationale Abkommen und Gesetze tragen dazu bei, dass Vertriebene meist in ihrer Herkunftsregion bleiben. Die Genfer Flüchtlingskonvention von 1951 definiert einen Flüchtling als Person mit „einer begründeten Furcht vor Verfolgung wegen ihrer Ethnie, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen ihrer politischen überzeugung“ (Artikel 1) (UNHCR 2010). Gemäß diesen Bestimmungen muss die Bedrohung, der ein Flüchtling ausgesetzt ist, individuell gegen diese Person gerichtet sein sowie das Ergebnis der direkten Verfolgung durch den Staat oder von dessen Unfähigkeit oder mangelnder Bereitschaft, diese Person zu schützen. Wenn also einer Person von der Regierung ihres Landes kein angemessener grundlegender Schutz gewährt werden kann, dann garantiert das internationale Flüchtlingsrecht den Anspruch auf Schutz durch ein anderes Land oder die Vereinten Nationen. In Afrika und Lateinamerika gilt laut verbindlichen regionalen Flüchtlingskonventionen der „Zusammenbruch der zivilen Ordnung“ – einschließlich Hunger und Hungersnot – als zusätzlicher legitimer Grund (über die Bestimmungen der Genfer Flüchtlingskonvention von 1951 hinaus) für die Anerkennung einer Person als Flüchtling. Regionale Instrumente – wie die Konvention der Afrikanischen Union zum Schutz und zur Unterstützung von Binnenvertriebenen in Afrika (manchmal auch als Kampala-Konvention bezeichnet) – erweitern einen Großteil dieses Schutzes auch auf Binnenvertriebene. Diese Differenzierung zwischen dem Rechtsschutz für Flüchtlinge in Afrika und Lateinamerika und der Definition der Genfer Flüchtlingskonvention von 1951 ist entscheidend. Sie bedeutet, dass eine Person, die beispielsweise vor einer Hungersnot in Somalia flieht, in äthiopien oder Kenia als Flüchtling anerkannt wird, weil alle afrikanischen Staaten die Konvention der Afrikanischen Union unterzeichnet und ratifiziert haben und die Vereinten Nationen diese Konvention in Afrika einhalten. Es handelt sich also um eine umfassendere Definition als diejenige, die außerhalb dieser Regionen gilt.

Zugunsten kürzerer Fluchtrouten und angesichts der unverhältnismäßigen Belastung für Aufnahmegesellschaften sollen von Ernährungsunsicherheit bedrohte Flüchtlinge und Binnenvertriebene nach Möglichkeit in ihren Herkunftsregionen versorgt werden. Die Ernährungssicherheit kann in Form von Nahrungsmittelhilfe gestärkt werden. Dieser Ansatz bringt jedoch eine Reihe von Nachteilen mit sich, darunter hohe Kosten für die Beschaffung und den Transport von Nahrungsmitteln, die Gefahr, dass lokale Märkte verzerrt werden, und die Schwierigkeit, Nahrungsmittel in ausreichend großer Menge und Vielfalt bereitzustellen, um die Menschen über lange Zeiträume hinweg zu versorgen. Daher werden zunehmend auch andere Instrumente eingesetzt, etwa Bargeldtransfers oder Warengutscheine, die es den Bedürftigen ermöglichen, auf lokalen Märkten das Benötigte zu erwerben, und Beschäftigungsmaßnahmen, die zur Einkommensgenerierung beitragen, sodass die Menschen ihre Widerstandsfähigkeit erhalten und das Risiko einer Abhängigkeit verringert wird. Eine solche Unterstützung kann – unter geeigneten Umständen – auch die Prävention vor und den Wiederaufbau nach einer Katastrophe oder Vertreibung fördern. Diese Art bargeldbasierter Hilfe beeinflusst auch Programme zur Förderung von Ernährungssicherheit. Es bedarf hierbei einer sorgfältigen Bewertung, um festzustellen, wann die lokale wirtschaftliche Situation für die Ausgabe von Bargeld geeignet ist und wann nicht.

Unterstützung bedeutet des Weiteren, dass sich Flüchtlinge und Binnenvertriebene frei bewegen können und an beziehungsweise nahe dem Ort ihrer Vertreibung Möglichkeiten haben, ihren Lebensunterhalt zu sichern. Daten aus Uganda belegen, dass Flüchtlinge, die sich frei bewegen können und bei ihrer Existenzsicherung unterstützt werden, unabhängiger sind und mehr zur lokalen und nationalen Wirtschaft beitragen können, als wenn sie in Lagern leben und von externer Hilfe abhängig sind (Betts et al. 2014). Die ugandische Regierung hatte Flüchtlingen aus dem Südsudan Ackerland zur Verfügung gestellt. Diese Maßnahme hat zu Schwierigkeiten geführt, da die Zahl der Vertriebenen gestiegen ist und Land entsprechend knapper wurde. Gleichwohl bleibt die Stärkung von Resilienz und Existenzgrundlagen von Flüchtlingen in offenen Lagern ein wichtiges Handlungsprinzip.

Generell ist regionale Entwicklung notwendig, um Vertriebene zu unterstützen und gleichzeitig den Hunger der dortigen Bevölkerung zu bekämpfen. Sie kann dazu beitragen, dass die Wirtschaft in den Aufnahmeländern floriert und die Widerstandsfähigkeit der Vertriebenen gestärkt wird. Größere wirtschaftliche Resilienz ermöglicht Menschen mehr Sicherheit auf ihrer Flucht. Wirtschaftliche Chancen in heimatnahen Regionen können für Vertriebene mehr Wahlfreiheit bei der Entscheidung bedeuten, wohin sie ziehen, und letztlich die mit irregulärer Migration – oft über größere Entfernungen – verbundenen Risiken vermeiden.

Die Förderung der wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung in Gebieten und Gemeinschaften, die von Vertreibung betroffen sind, erfordert ferner eine Auseinandersetzung mit Regierungsstrukturen, staatlicher Politik und der Zivilgesellschaft: Die Widerstandsfähigkeit von Einzelpersonen, Haushalten und Gemeinschaften muss geschützt und gerade jene Ausprägungen von Verfolgung, gesellschaftlichen Zusammenbrüchen und Ernährungsunsicherheit müssen verhindert werden, die zu weiterer massenhafter Vertreibung und noch mehr Hunger führen. Diese Art politischen Engagements kann eine Herausforderung für Hilfsorganisationen und Geldgeber darstellen, die bisweilen politische Fragen ausgeklammert haben – wegen der Befürchtung, ihr Zugang zu bedürftigen Bevölkerungsgruppen könnte gefährdet sein, wenn sie sich derart äußern. Stillschweigen birgt jedoch die Gefahr, dass die Umstände fortbestehen, die zur Vertreibung führten.

Obwohl der Schwerpunkt auf dem Schutz und der Unterstützung der Vertriebenen in ihren Herkunftsregionen liegt, kann es unter bestimmten Umständen notwendig sein, manchen Flüchtlingen außerhalb ihrer Herkunftsregion Hilfe zukommen zu lassen, beispielsweise wenn keine Aussicht auf Rückkehr besteht oder das Aufnahmeland nicht in der Lage ist, die Bedürfnisse der Schutz suchenden Flüchtlinge zu decken. Einige Aufnahmeländer weisen indes einen so niedrigen Human-Development-Index-Wert auf, dass sie nicht einmal angemessen für ihre eigenen BürgerInnen sorgen können, geschweige denn für zusätzliche Flüchtlinge. In solchen Fällen kann für bestimmte Flüchtlinge eine Umsiedlung in ein Drittland außerhalb der Region erforderlich sein. Folglich sind Umsiedlungen von Flüchtlingen in vielen Fällen immer noch nötig, wenngleich die Bereitschaft dazu in den letzten Jahren nachgelassen hat.

Flüchtlinge und Vertriebene bewahren ihre Resilienz

Foto: Daniel Pilar/Welthungerhilfe. Registrierung und Hilfsgüterverteilung für Flüchtlinge der Rohingya aus Myanmar im Nayanpara Registration Camp in Bangladesch im November 2017. Ausblenden

 

Flucht ist eine Bewältigungsstrategie, die Menschen ergreifen, um einer Gefahr zu entkommen, sei es aus politischen Gründen oder aufgrund von Hunger. Sie kann verschiedene Formen annehmen. Menschen fliehen zu unterschiedlichen Zeitpunkten. Manche flüchten, bevor sie ihr Vermögen verlieren, während andere in ihren Heimatgebieten warten, bis sie alles verloren haben, weil sie hoffen, dass sich die Bedingungen verbessern und sie nicht fliehen müssen. Manche Familien flüchten gemeinsam, andere dagegen lassen ein oder zwei Familienmitglieder zurück, um ihre Häuser und ihr Land zu bewachen, in der Hoffnung, dass auf diese Weise eine baldige Rückkehr einfacher wird.

Das Wissen um die Ursachen und den Zeitpunkt der Vertreibung ist nicht nur wichtig, um den Hilfs- und Schutzbedarf von Vertriebenen zu ermitteln. Es hilft zudem bei der Bestimmung der Faktoren, die dazu beitragen, dass sich ihre Vertreibung verlängert. überdies lassen sich damit leichter die richtigen Maßnahmen ergreifen, die den Vertriebenen die Zuversicht geben, in ihre Heimat zurückkehren zu können (oder es wird erkennbar, warum eine Rückkehr nicht möglich sein wird und warum andere Lösungen für die Vertriebenen gefunden werden müssen). Ein solches Verständnis umfasst die komplizierten Verhältnisse der lokalen politischen ökonomie, die Dynamik von Konflikten und die vielfältigen Kausalzusammenhänge, die nicht nur erklären, warum Menschen flüchten, sondern auch, mit wem sie flüchten, was sie mitnehmen und wohin sie flüchten.

Obwohl sie gezwungen sind zu fliehen, verlieren Vertriebene nie ganz ihre Handlungs- und Widerstandsfähigkeit. Die Flucht selbst ist ein Zeichen von Handlungsfähigkeit: einen Ort zu verlassen, um Sicherheit und Geborgenheit zu finden. Unabhängig davon, wie arm sie sind und welche Umstände ihre Vertreibung kennzeichnen, tun Flüchtlinge und Binnenvertriebene alles dafür, ihren Zugang zu Nahrungsmitteln zu sichern – oft auf kreative Art und Weise, die Hilfsorganisationen mit Manipulation oder Missbrauch von Hilfe verwechseln. Weil Nahrungsmittel beispielsweise nur unregelmäßig und in unzureichender Menge verteilt werden, versuchen sie möglicherweise, sich mehr Lebensmittelkarten zu sichern, als ihnen zustehen. Manche ergänzen ihre Nahrungsrationen mit Lebensmitteln, die sie auf dem Markt erworben haben, etwa durch Handel, Lohnarbeit oder den Verkauf von Holzkohle. Sie diversifizieren ihre Einkommensmöglichkeiten, indem sie tägliche Lohnarbeit leisten, Besitztümer verkaufen oder Kinder zur Arbeit in städtische Haushalte schicken. Einige Menschen teilen ihre erhaltenen Hilfeleistungen mit Verwandten, die in ihren ursprünglichen Häusern bleiben, um ihr Eigentum zu schützen; sie betrachten dies als eine langfristige Investition in die Zukunft, auch wenn die ihnen zukommende Hilfe kaum ausreicht, um sich selbst zu ernähren. Eine kürzlich durchgeführte Studie ergab, dass viele Binnenvertriebene in Mogadischu, Somalia, ihre spärliche Beihilfe mit Verwandten teilen, die in ländlichen Gebieten leben, damit jene dort bleiben und sie außerhalb der Stadt etwas besitzen, zu dem sie zurückkehren können, wenn sich die Sicherheitsbedingungen verbessert haben (EUTF REF 2018).

Maßnahmen zur Unterstützung von Flüchtlingen und Binnenvertriebenen sollten deren Resilienz stärken, bewirken jedoch häufig genau das Gegenteil. So kann es diesen Menschen gesetzlich untersagt sein, sich im Land frei zu bewegen, Eigentum zu besitzen oder legal zu arbeiten. In Kenia beispielsweise unterliegen somalische Flüchtlinge all diesen Einschränkungen. Dies begrenzt die Möglichkeiten von Vertriebenen, Zugang zu qualitativ und quantitativ ausreichender Nahrung zu erhalten. Unter anderem in äthiopien und Jordanien werden hingegen speziell für Flüchtlinge Arbeitsplätze geschaffen. Diese Initiativen mögen den Vorteil haben, Flüchtlingen Einkommen zu verschaffen. Wenn sie aber nicht auch den Schutzstatus angehen, erhöhen sie die Gefahr, dass Flüchtlinge in erster Linie als Arbeitskräfte angesehen und ihre sonstigen Bedürfnisse neben dem Einkommensbedarf übersehen werden – und dass sich Spannungen zwischen Aufnahmegesellschaften und Flüchtlingen verschärfen (Crawley 2017).

Fazit

Foto: Imke Lass/Welthungerhilfe. Ein Mann im Camp Khanke für vertriebene Jesiden bei Dohuk, Nordirak. Ausblenden

Handlungsempfehlungen

Flucht und Hunger – eng miteinander verflochtene Herausforderungen – betreffen einige der ärmsten und konfliktreichsten Regionen der Welt. Dieser Aufsatz hat sich auf die wichtigsten Hindernisse konzentriert, die einer wirksameren Unterstützung von Vertriebenen vor, während und nach der Vertreibung im Weg stehen. Die Hilfe für von Hunger bedrohte Vertriebene muss in vier Schlüsselbereichen wie folgt verbessert werden:

  1. Hunger und Vertreibung als politische Probleme erkennen und angehen;

  2. Ganzheitlichere Ansätze gegen Langzeitvertreibung einschließlich Entwicklungszusammenarbeit anwenden;

  3. Hungergefährdete Vertriebene bleiben meist in ihren Herkunftsregionen und müssen dort unterstützt werden;

  4. Anerkennen, dass Flüchtlinge und Vertriebene ihre Widerstandsfähigkeit nie vollständig verlieren und dass diese die Grundlage für Hilfsleistungen sein sollte

Strategiepapiere, internationale Vereinbarungen, Advocacy-Beiträge und akademische Arbeiten geben oft Lippenbekenntnisse zu diesen vier Punkten ab, deren Realisierung folgt darauf aber selten. Um den Herausforderungen wirksam zu begegnen, müssen wir über humanitäre Hilfe hinausgehen, förderungswürdige politische Lösungen erkennen und zugleich längerfristige Entwicklungsanstrengungen unternehmen. Dieser Ansatz muss sich auf alle Bereiche erstrecken: Ermöglichung von Mobilität und Einkommen schaffenden Tätigkeiten, Unterstützung der allgemeinen und beruflichen Bildung in Verbindung mit Beschäftigungsmöglichkeiten in von Vertreibung betroffenen sowie angrenzenden Gebieten, Gesundheitsversorgung für Menschen mit chronischen Krankheiten sowie Sicherung des Marktzugangs für Vertriebene, damit sie langfristig genügend hochwertige Nahrungsmittel erwerben können. Vertreibung und Flucht sollten von Anfang an nicht als kurzfristige Krisen betrachtet werden, sondern als potenziell langfristige Fluchtbewegungen, die sich über viele Jahre erstrecken. Eine solche Sichtweise von Beginn an einzunehmen kann Zeit und Ressourcen sparen und viel Leid verhindern.

Eine ganzheitliche Antwort auf Flucht, Vertreibung und Hunger muss eine tiefgreifende Auseinandersetzung mit den politischen Faktoren beinhalten, welche die Widerstandsfähigkeit untergraben sowie Hunger- und Vertreibungsrisiken hervorrufen. Sie muss versuchen, Entwicklungszusammenarbeit in die Unterstützung von Vertriebenen zu integrieren, auch dann, wenn humanitäre Hilfe geleistet wird. Sie muss sich darauf konzentrieren, die Existenzgrundlagen in den Herkunftsregionen zu stabilisieren und die Widerstandsfähigkeit derart zu stärken, dass die lokalen Märkte unterstützt und die Strukturen zum Aufbau und Erhalt von Existenzgrundlagen gefestigt werden. So können die Selbsthilfestrategien der Menschen wirksamer greifen. Nicht zuletzt sollten die Bemühungen zur Bekämpfung von Hunger und Vertreibung in den Entwicklungsländern einen regionalen Ansatz verfolgen, der den Aufnahmeländern und -gesellschaften hilft, besser auf die Bedürfnisse der Vertriebenen einzugehen, ohne selbst zu verarmen.

Im vergangenen halben Jahrhundert hat die Welt große Fortschritte dabei gemacht, das Ausmaß von Hungersnöten zu verringern. Im nächsten halben Jahrhundert könnten ähnliche Fortschritte bei der Reduzierung von Fluchtbewegungen – wo immer sie auftreten – die Ernährungssicherheit von Millionen Menschen dauerhaft verbessern.

 

Fußnoten

  1. Dies ist ein Grund dafür, dass die Leitlinien zur Binnenvertreibung nicht nur von staatlichen, sondern auch von nichtstaatlichen Akteuren unterstützt werden. Siehe Bellal et al. (2011).  
  2. Siehe die Flüchtlingskonvention der OAU (heute Afrikanische Union) von 1969 über die spezifischen Aspekte von Flüchtlingsproblemen in Afrika (OAU 1969) und die Erklärung von Cartagena über Flüchtlinge (1984).  
  3. Siehe u. a. Danish Refugee Council (2014) und Kiaby (2017).  

über die Autorin

Dr. Laura Hammond ist Professorin für Development Studies an der SOAS University of London. Sie forscht seit den 90er Jahren zu den Themen Migration, Konflikt und Ernährungssicherheit. Ihr geographischer Schwerpunkt ist die Region Horn von Afrika. Sie hat an der Clark University, USA und der University of Sussex, GB gelehrt.

Seit Kurzem ist sie Challenge Leader für Sicherheit, langwierige Konflikte, Flüchtlinge und Vertreibung des Global Challenge Research Fund. Außerdem ist sie Vorsitzende des London International Development Centre-Migration Leadership Teams und Leiterin des Teams des EU Trust Fund’s Research and Evidence Facility zu Migration und Konflikt am Horn von Afrika. Laura ist Autorin des Buches This Place Will Become Home: Refugee Repatriation to Ethiopia sowie weiteren Büchern und Zeitschriftenartikeln. Sie hat einen Masterabschluss in Anthropologie von der Wisconsin-Madison Universität.