Hunger wird oft als Folge umweltbedingter oder natürlicher Ursachen verstanden. Viele AnalytikerInnen führten die Hungersnot 2011 in Somalia beispielsweise auf die „schlimmste Dürre seit 60 Jahren“ (BBC 2011) zurück anstatt auf das komplexe Zusammenspiel von gewaltsamem Konflikt und der Blockade humanitärer Zugangswege und Fluchtkorridore – Faktoren, die in Verbindung mit der Dürre und der extremen Not der Menschen in landwirtschaftlich und agro-pastoral geprägten Gebieten Süd- und Zentralsomalias zu massenhaftem Hungertod führten.
Hunger ist – genau wie Vertreibung – in der Regel das Ergebnis politischer Prozesse. Naturkatastrophen wie Dürren, überschwemmungen und extreme Wetterereignisse führen nur dann zu Hunger und Vertreibung, wenn Regierungen nicht vorbereitet oder nicht willens sind zu reagieren, weil ihnen entweder die Kapazitäten fehlen oder sie Hilfeleistungen vorsätzlich unterlassen beziehungsweise ihre Macht missbräuchlich einsetzen. Dürre zum Beispiel ist eine langsam einsetzende Katastrophe, die sich über mehrere Jahre hinweg entwickelt. Mit angemessenen Frühwarnund Reaktionssystemen und der nötigen Dosis politischen Willens müssen Dürren keinesfalls zu Hunger und Hungersnot führen.
Wie Alex de Waal in seinem Aufsatz für den Welthunger-Index-Bericht 2015 betonte, gehören große Hungersnöte der Vergangenheit an (von Grebmer et al. 2015). Regierungen sind zunehmend in der Lage, Krisensituationen vorauszusehen, die einst für Millionen Menschen den Hungertod bedeuteten, sich darauf vorzubereiten, sie zu verhindern oder einzudämmen; außerdem sind sie rechenschaftspflichtig gegenüber ihren Bürgerinnen und Bürgern, die von ihnen erwarten, entsprechende Maßnahmen zu ergreifen. Frühwarnsys - teme, Nahrungsmittelreserven für Notsituationen, Strategien zum Schutz und Aufbau von Ressourcen, Risikoversicherungen und Beschäftigungsprogramme sind nur einige Mechanismen, mit denen sichergestellt werden kann, dass Menschen nicht verhungern, die von Naturkatastrophen, wirtschaftlichen Notlagen, Konflikten oder Gewalt betroffen sind. Außerdem, so argumentiert Amartya Sen, sind Regierungssysteme, die gegenüber ihrer Wählerschaft Rechenschaft ablegen müssen – aufgrund einer freien Presse, demokratischer Partizipation und transparenter Regierungsführung –, weitaus stärker bemüht, Hunger unter ihrer Regierungsverantwortung zu vermeiden, um nicht von ihren WählerInnen abgestraft zu werden (Sen 2001).
Dieses Argument kann auch auf nichtstaatliche Akteure ausgeweitet werden, die Regierungsaufgaben auf lokaler oder nationaler Ebene übernehmen wollen. Zeigen sie die Fähigkeit und Bereitschaft, Hunger und Vertreibung zu verhindern, und handeln sie als nichtstaatlicher Akteur wie ein verantwortlich agierender Staat, können sie so UnterstützerInnen gewinnen.
Dessen ungeachtet sind Hunger und seine extremste Form – Hungersnot – weiterhin stark verbreitet, oftmals aufgrund gezielter Politik, Fahrlässigkeit oder mangelnder Kapazitäten, wodurch den Menschen der Zugang zu den benötigten Ressourcen versperrt ist. Die Schuld an der Entstehung von Hunger kann in vielen Fällen Individuen oder Institutionen zugeschrieben werden (Edkins 2008; Menkhaus 2012). Die Länder mit der schlimmsten Hungersituation im Jahr 2018 sind zugleich jene, die von Konflikten, politischer Gewalt und Vertreibung betroffen sind.
Von Katastrophen heimgesuchte Bevölkerungen sind oft einem erhöhten Hungerrisiko ausgesetzt, unabhängig davon, ob sie zur Flucht oder zum Verbleib gezwungen sind. Die fluchtauslösenden Faktoren verhindern auch den Zugang zu Nahrung. Menschen, die davon abgehalten werden, zu arbeiten, sich in ihrer Heimat frei zu bewegen, ihre geernteten Produkte auf dem Markt zu verkaufen oder grundlegende Dienstleistungen in Anspruch zu nehmen, haben große Schwierigkeiten, sich und ihre Familien mit ausreichend Nahrungsmitteln zu versorgen. Trotz dieser Risiken können sie manchmal nicht fortziehen, weil es zu gefährlich wäre oder weil sie es sich nicht leisten können. Unter den ZivilistInnen, die im Jahr 2018 in Syrien und im Jemen Hunger leiden, finden sich sowohl Binnenvertriebene als auch durch Belagerungen Eingeschlossene. In Syrien konnte sich 2016 jede dritte Person, die vertrieben worden war oder unter Belagerung lebte, keine Grundnahrungsmittel leisten; Binnenvertriebene waren die gefährdetste Bevölkerungsgruppe des Landes (Lovelle 2016). Human Appeal berichtet, dass sich im Jemen „der Household Hunger Scale (HHS – ein Maßstab für die Messung von Hunger in Haushalten) seit 2014 fast verdreifacht hat, da die Menschen in 40 Prozent der jemenitischen Haushalte hungrig schlafen gehen und fast 20 Prozent erklärten, bisweilen einen ganzen Tag lang nichts zu essen zu haben“ (Human Appeal 2018, 15).
Das humanitäre Völkerrecht verbietet den Einsatz von Nahrungsentzug oder Hunger als Kriegswaffen. Demnach ist es außerdem verboten, „Nahrungsmittel, zur Erzeugung von Nahrungsmitteln genutzte landwirtschaftliche Gebiete, Ernte- und Viehbestände, Trinkwasserversorgungsanlagen und -vorräte sowie Bewässerungsanlagen anzugreifen, zu zerstören, zu entfernen oder unbrauchbar zu machen, um sie wegen ihrer Bedeutung für den Lebensunterhalt der Zivilbevölkerung oder der gegnerischen Partei vorzuenthalten, gleichviel ob Zivilpersonen ausgehungert oder zum Fortziehen veranlasst werden sollen oder ob andere Gründe maßgebend sind“ (Additional Protocol I to the Geneva Conventions, 1977: Article 54(2)). Dieses Verbot wurde in der im Mai 2018 verabschiedeten Resolution 2417 des UN-Sicherheitsrats zu Hunger und Konflikten bekräftigt, in der das Aushungern von ZivilistInnen und die rechtswidrige Verweigerung des Zugangs zu humanitärer Hilfe als Kriegstaktik verurteilt werden. Allerdings finden regelmäßig Verstöße gegen das Völkerrecht statt, und es ist eine gängige Methode staatlicher und nichtstaatlicher Akteure, Menschen hungern zu lassen.
Diese Taktik wurde auch 2011 in Somalia angewandt, wo Dürre, Konflikte, fehlender Zugang zu humanitärer Hilfe und die weltweit hohen Nahrungsmittelpreise zu einer tödlichen Katastrophe führten, in deren Folge schätzungsweise mehr als 250.000 Menschen starben (LSHTM und Johns Hopkins University 2013). Ein die Hungersnot verschärfender Faktor war das Vorgehen der Rebellenmiliz Al-Shabaab, die Menschen daran hinderte, die von der Dürre am stärksten betroffenen Gebiete zu verlassen, weswegen sie die Lager für Binnenvertriebene in der Hauptstadt Mogadischu oder die Flüchtlingslager im kenianischen Dadaab nicht erreichen konnten (Menkhaus 2012; Maxwell und Majid 2016). Die Miliz behauptete, dass sie die Abhängigkeit der Dürreopfer nicht fördern wolle und dass es besser sei, den Menschen in der Nähe ihrer Heimat zu helfen, damit sie so schnell wie möglich wieder arbeiten könnten. Mit dieser Strategie sollte die Unterstützerbasis der Al-Shabaab in den ländlichen Gebieten erhalten werden, denn sie verhinderte, dass die Menschen in die Regierungshochburgen in den urbanen Zentren flüchteten – eine Maßnahme, die im Allgemeinen erfolglos war und das Leid derer verschlimmerte, die nicht in der Lage waren, das Gebiet zu verlassen. Gleichzeitig blockierte die somalische übergangsregierung (Transitional Federal Government – TFG) den Zugang von Hilfsorganisationen zu Gebieten, die von der Al-Shabaab kontrolliert wurden. Laut Menkhaus „wurden auch humanitäre Organisationen von der TFG angegriffen, die sie beschuldigte, Nahrungsmittelhilfe zu kanalisieren und mit ‚dem Feind‘ zusammenzuarbeiten. Bei vielen Zwischenfällen, von denen Hilfsorganisationen betroffen waren, bestand der Verdacht, dass sie vielmehr von TFG-Beamten und ihren Paramilitärs verübt worden waren und nicht von der Al-Shabaab. Das Umfeld des Einsatzes war daher nicht nur wesentlich gefährlicher und restriktiver, sondern auch unvorhersehbarer“ (Menkhaus 2012, 32).
Solche Vorkommnisse verdeutlichen, dass bei der Reaktion auf Vertreibungen auch die zugrunde liegenden politischen Faktoren berücksichtigt werden müssen. Auf allen Ebenen müssen Maßnahmen zur Konfliktverhütung und Friedensstiftung unterstützt werden, ebenso wie Regelungen zur Stärkung der Rechenschaftspflicht und Transparenz der Regierungsführung, damit sich Regierungen nicht so einfach ihrer Pflicht entziehen können, die Grundbedürfnisse ihrer BürgerInnen nach Schutz und Ernährungssicherheit zu befriedigen.