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Den Hunger beenden: Utopie oder Realität?

Den Hunger beenden: Utopie oder Realität?

   
Box 1.2 von Maximo Torero
Chief economist, FAO
Oktober 2022
Foto: Oleksii Leonov; Khmel´nyts´ka Oblast´, Ukraine. Ausblenden

Es gibt genügend Nahrungsmittel, um alle Menschen auf der Welt zu ernähren – den Hungernden fehlt jedoch der Zugang.

Der globale Handel bringt Nahrungsmittel vom Produktionsort hin zu Konsument*innen und sorgt so im besten Fall dafür, dass die Menschen satt werden. Russland und die Ukraine sind zwei der größten Agrarproduzenten der Welt: ihre Nahrungsmittel-Exporte machen etwa zwölf Prozent aller weltweit gehandelten Nahrungskalorien aus (Laborde 2021). Bis Ende August 2022 hat der Krieg in der Ukraine ein Viertel des weltweiten Getreidehandels zerstört. Damit steht der internationale Handel von Agrarprodukten im Wert von etwa 1,8 Billionen US-Dollar auf dem Spiel (UNECE 2021).

Die Folgen durch die Unterbrechung dieser Lieferkette für Nahrungsmittel könnten verheerend sein. Etwa 50 Länder, die für den Großteil ihrer Weizenimporte auf Russland und die Ukraine angewiesen sind – darunter Bangladesch, Ägypten, Iran und die Türkei –, suchen gegenwärtig händeringend nach alternativen Lieferquellen (Reuters 2022; El Safty 2022).

Zu diesem Problem kommt die anhaltende Inflation der Nahrungsmittelpreise, die schon in der zweiten Hälfte des Jahres 2020 begann. Im März 2022 stiegen die Nahrungsmittelpreise weltweit auf den höchsten jemals verzeichneten Stand: Im Vergleich zum Vorjahr schnellten die Preise für Getreide um 37 Prozent in die Höhe, für Speiseöle um 56 Prozent und für Fleisch um 20 Prozent. Im Juli dieses Jahres lagen die Preise gegenüber März zwar wieder etwas niedriger, aber noch im Juni 2022 waren sie 27 Prozent höher als im Juni 2021 (FAO 2022c).

Schon vor dem Ukrainekrieg waren die Düngemittelpreise aufgrund der hohen Nachfrage und der steigenden Kosten für Erdgas – ein wichtiger Bestandteil von Düngemitteln – in die Höhe geschossen. Die ausbleibenden Lieferungen aus Russland, einem der für Düngemittel führenden Exportländer, beeinträchtigen die Nahrungsmittelproduktion auf der ganzen Welt, von Brasilien und Kanada bis hin zu Kenia und Simbabwe. Dies könnte im nächsten Jahr zu erheblich geringeren globalen Ernteerträgen führen (Polansek and Mano 2022). Hinzu kommt, dass die weltweiten Vorräte an Nahrungsmitteln knapper sind als vor der Pandemie.

All dies führt zu einer größeren Volatilität der Preise für Nahrungsmittel. Wenn jene weiter steigen, bedeutet das nicht nur, dass die Menschen den Gürtel enger schnallen oder mehr für ihre Mahlzeiten bezahlen müssen: Für diejenigen, die jetzt bereits extrem unter Hunger leiden, könnte dies den Hungertod bedeuten. Die Inflation der Nahrungsmittelpreise kann Märkte verunsichern und sogar den Sturz von Regierungen herbeiführen: dies war in Sri Lanka der Fall und sollte dem Rest der Welt eine Warnung sein (Jayasinghe, Pal, and Ghoshal 2022).

Ein verlorener Kampf

Auf der Welternährungskonferenz 1974 in Rom erklärte der damalige US-Außenminister Henry Kissinger, dass in zehn Jahren kein Kind mehr hungrig zu Bett gehen müsse (Kissinger 1974). Wenngleich seine Vorhersage nicht eintrat, gab es in den folgenden Jahrzehnten stetige Fortschritte bei der Beendigung des Hungers. Doch als 193 Länder 2015 bei den Vereinten Nationen zusammenkamen, um sich zu verpflichten, den Hunger in der Welt binnen 15 Jahren zu beenden, hatte sich der Trend bereits umgekehrt – die Zahl der weltweit unterernährten Menschen hatte wieder zu steigen begonnen (FAO, IFAD et al. 2022).

Dann kam die COVID-19-Pandemie, die zwei Jahrzehnte Fortschritte bei der Bekämpfung von extremer Armut und Hunger zunichtemachte und Hunderte Millionen weitere Menschen in den chronischen Hunger stürzte (Kharas and Dooley 2021; FAO, IFAD et al. 2022). In Ländern wie der Demokratischen Republik Kongo, Äthiopien, Nigeria und dem Jemen ist die Zahl der Menschen, die von Hunger betroffen sind, zwischen 2020 und 2021 um 20 Prozent gestiegen (FSIN and GNAFC 2021).

Weltweit können sich 3,1 Milliarden Menschen keine nährstoffreichen Nahrungsmittel leisten und sind auf stärkehaltige Nahrungsmittel als Kalorienquelle angewiesen (FAO, IFAD et al. 2022). Gemäß aktuellen Hochrechnungen des Welthunger- Index wird es 46 Ländern nicht gelingen, bis 2030 ein niedriges Hungerniveau zu erreichen.

Noch zu Beginn der Pandemie hatte sich die internationale Gemeinschaft zur Zusammenarbeit bekannt, um den globalen Agrarhandel trotz der vielen Lockdowns aufrechtzuerhalten. Doch inzwischen bricht Panik aus und es gibt schon Anzeichen für Protektionismus, denn erste Regierungen verhängen bereits Exportverbote für Nahrungsmittel, um die heimische Versorgung sicherzustellen (Glauber, Laborde, and Mamun 2022).

Die galoppierenden Preise haben schon jetzt dazu geführt, dass selbst elementarste Grundnahrungsmittel für viele arme Familien auf der ganzen Welt unerschwinglich geworden sind. Wenn der Krieg in der Ukraine anhält, wird die rasante Verteuerung der Nahrungsmittel zu einer noch größeren Katastrophe führen, insbesondere für ärmere Länder.

Meine Kolleg*innen und ich schätzen, dass 2022/2023 zusätzlich zwischen 8 Millionen und 13 Millionen Menschen unterernährt sein könnten, wobei die größten Anstiege in Asien, Afrika südlich der Sahara und im Nahen Osten erwartet werden (FAO 2022d).

Wie wir eine Katastrophe verhindern können

Der Krieg zwischen Russland und der Ukraine mag wie das Totengeläut für das Ziel „Kein Hunger“ der Agenda 2030 der Vereinten Nationen klingen.

Doch die Kluft zwischen der Realität und dem utopischen Ideal „Kein Hunger“ sollte kein Grund zur Verzweiflung sein. Vielmehr sollte das Ziel dazu dienen, die Regierungen und die internationale Gemeinschaft in die Pflicht zu nehmen, das universelle Recht auf Nahrung und ein menschenwürdiges Leben für alle zu verwirklichen. Angesichts abnehmender internationaler Zusammenarbeit inmitten geopolitischer Spannungen war das Eintreten für die Erreichung dieses Ziels (Advocacy) noch nie so wichtig wie heute. Dieses Ziel muss als Schlachtruf dienen, um tatkräftige Unterstützung zu mobilisieren und die Regierungen zum Handeln zu bewegen.

Was kann getan werden? Die Antwort lautet: eine ganze Menge! Die Nahrungsmittelhilfen, die Familien während der Pandemie über Wasser gehalten haben, müssen fortgeführt werden. Denn ohne starke soziale Sicherheitsnetze können die Länder den Hungertrend nicht umkehren. Da Regierungen zurzeit jedoch kaum finanzielle Spielräume haben, werden sie kaum den Ausbau der sozialen Sicherheitsnetze vorantreiben. Dabei sollten sie jedoch nicht vergessen, dass die großzügigen COVID-19-Hilfspakete – vor allem in den Industrieländern – den Schock der pandemiebedingten Lockdowns abgefedert haben, die andernfalls eine weltweite Rezession ausgelöst und die Hungerraten weiter hochgetrieben hätten.

Vulnerable Länder, insbesondere ärmere Länder, die auf Nahrungsmittelimporte aus Russland und der Ukraine angewiesen sind, sollten umgehend Finanzmittel für die Beschaffung von Nahrungsmitteln für ihre Bevölkerung erhalten (FAO 2022e). Ein Nothilfefonds in Höhe von 24,6 Milliarden US-Dollar würde den unmittelbaren Bedarf der 62 vulnerabelsten Länder decken, in denen 1,79 Milliarden Menschen leben. Der Internationale Währungsfonds ist hinreichend gut aufgestellt, um diese Initiative umzusetzen.

Zudem sollten alle Anstrengungen unternommen werden, um Exportbeschränkungen für Nahrungs- und Düngemittel zu vermeiden. Andernfalls werden Volatilität und Anstieg der Preise weiter zunehmen. Die Verhängung von Exportverboten hingegen ist die denkbar schlechteste Reaktion, die im Moment infrage kommt.

Regierungen und Investor*innen brauchen mehr Informationen über die Marktbedingungen, damit sie fundierte Entscheidungen treffen können, ohne in Panik zu geraten. Mehr Marktbeobachtungsdienste wie beispielsweise das Agrarmarkt-Informationssystem der G20 können die Markttransparenz erhöhen.

Sorgfältige Bodenprüfungen sowie Bodennährstoffkarten können Bäuerinnen und Bauern auf der ganzen Welt helfen, genau zu erfahren, wie viel und welche Kombination von Düngemitteln ihr Ackerboden benötigt (Elkin, Gebre, and Boesler 2022). Dies ermöglicht ihnen, ihre knappen Ressourcen zukünftig effizienter einzusetzen.

Zugleich müssen wir Verluste und Verschwendung von Nahrungsmitteln signifikant reduzieren. Derzeit geht fast ein Drittel aller weltweit produzierten Nahrungsmittel – das entspricht dem Jahresbedarf von etwa 1,26 Milliarden Menschen – an irgendeiner Stelle in der Nahrungsmittel-Lieferkette verloren oder wird verschwendet (FAO 2022f). Wenn wir den Verlust und die Verschwendung von Nahrungsmitteln um die Hälfte reduzieren könnten, wäre genug Obst und Gemüse vorhanden, sodass alle Menschen weltweit die empfohlene Menge von 400 Gramm pro Person und Tag decken könnten. Mängel in der Lieferkette von Nahrungsmitteln und die Verschwendung vom Großhandel bis zu den Konsument*innen haben auch auf die Umwelt beträchtliche negative Auswirkungen. Die Begrenzung von Nahrungsmittelverlusten und Verschwendung kann daher sowohl zur Beendigung des Hungers als auch zur Verringerung von Umweltschäden beitragen.

Im Grunde genommen war das Ziel „Kein Hunger“ von Anfang an eine enorme Herausforderung. Denn bei der Beendigung von Hunger geht es eben nicht nur darum, mehr Nahrungsmittel zu produzieren. Tatsächlich kann Hunger nur besiegt werden, wenn wir die strukturellen Treiber eliminieren, die ihn verursachen, nämlich Krieg, Klimakrise und Rezession (FSIN and GNAFC 2021). Eine nahezu unlösbare Aufgabe. Doch das bedeutet keinesfalls, dass das Ziel „Kein Hunger“ eine nutzlose Utopie der Vereinten Nationen wäre: Wie schon die vorangegangenen UN-Entwicklungsziele gezeigt haben, beeinflussen solche gemeinsamen Verpflichtungszusagen die Art und Weise, wie Länder Ressourcen nutzen und verteilen (McArthur and Rasmussen 2017). Sie tragen außerdem dazu bei, Mittel zu beschaffen, um den Kampf gegen Hunger entschieden fortzusetzen.

Kissingers Erklärung vor fast einem halben Jahrhundert, dass Hunger inakzeptabel sei, war weitsichtig. Wenn sich die gegenwärtigen Bedingungen nicht ändern, werden im Jahr 2030 immer noch mindestens 670 Millionen unterernährte Menschen unter uns sein (FAO, IFAD et al. 2022). Vielleicht können wir den Hunger bis dahin nicht beseitigen, aber wir können aufhören, uns in die falsche Richtung zu bewegen.

Die Welt wird nicht im Jahr 2030 enden. Genauso wenig wie der Kampf gegen den Hunger.

Maximo Torero ist Chefökonom der Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen (FAO).

ABHÄNGIGKEIT VON WEIZENIMPORTEN AUS DER RUSSISCHEN FÖDERATION UND DER UKRAINE 2021


3 der 4 Länder, deren Bevölkerung von einer Ernährungskatastrophe betroffen ist, 2021
4 der 7 Länder, für die im Jahr 2022 die höchste Zahl von Menschen prognostiziert wird, die von einer Ernährungskrise, einem Notfall oder einer Katastrophe betroffen sind.
9 der 10 von einer Nahrungsmittelkrise betroffenen Länder mit der höchsten Zahl von Flüchtlingen und Asylbewerber*innen, 2021.

Quelle: Berechnungen der FAO auf Grundlage von Trade Data Monitor (TDM); FSIN and GNAFC (2022).
Anmerkung: Die Abbildung zeigt Netto-Importländer von Weizen, die mindestens 20 Prozent ihres Weizens aus der Russischen Föderation und/oder der Ukraine beziehen. Hungersnot = IPC/CH Phase 5, Notfall = IPC/CH Phase 4, Krise = IPC/CH Phase 3.