Die meisten Menschen, die unter Armut und Ernährungsunsicherheit leiden, leben in ländlichen Gebieten. Kleinbauern leiden unter schwierigen strukturellen Rahmenbedingungen und müssen den Großteil ihrer Nahrungsmittel zukaufen (Glaeser, Horjus und Strother 2011). Daher kommt der Agrarpolitik bei der Stärkung der Widerstandsfähigkeit gegenüber Hungerkrisen eine Schlüsselrolle zu.
Niedrige Produktivität, fragmentierter Landbesitz, nicht nachhaltige Praktiken. Obwohl die klimatischen Bedingungen in Haiti ähnlich günstig sind wie in seinen karibischen Nachbarstaaten Kuba und der Dominikanischen Republik, sind die durchschnittlichen Getreideerträge wesentlich niedriger (Tabelle 4.1).
Wodurch erklären sich diese relativ niedrigen Getreideerträge der haitianischen Bauern? Die meisten Bauern in Haiti sind Bergbauern mit kleinen Höfen und verstreuten, stark parzellierten Feldern. Nach haitianischem Erbrecht wird Land unter mehreren Erben aufgeteilt, was zu einer fortschreitenden Fragmentierung des Landbesitzes und zu schwachen Grundbesitzverhältnissen führt. Unter diesen Bedingungen ist es für landwirtschaftliche Großbetriebe und Industrie- und Bergbauunternehmen ein Leichtes, sich fruchtbares Land anzueignen (Cadre de Liaison Inter-ONG Haiti 2013).
In Anbetracht der schlechten Bodenqualität vieler Parzellen und der konstanten Bedrohung durch ökologische und klimatische Gefahren tendieren die meisten Kleinbauern eher zur Risikominimierung als zur Produktionsmaximierung, um ihr überleben und ihre Ernährungssicherheit zu gewährleisten. Das heißt, sie nutzen die unterschiedliche Bodenqualität ihrer Anbauflächen und diversifizieren ihre Anbauprodukte, um Erntezyklen zu verlängern und Natur- und Klimarisiken vorzubeugen. Gleichzeitig zwingen jedoch demografischer Druck und Armut die ländliche Bevölkerung zu Maßnahmen, die ihre Vulnerabilität gegenüber Risiken noch erhöhen. Abholzung zur Holzkohlegewinnung als alternative Einkommensquelle führt zum Beispiel zu einer Verschlechterung der Umweltbedingungen und trägt zu Bodenerosion und Wasserknappheit bei. Aufgrund der Landknappheit bewirtschaften Kleinproduzenten zunehmend Steilhänge mit besonders empfindlichen Böden, was wiederum Erosion und Bodenverschlechterung fördert.
Neben den zunehmend parzellierten Landbesitzverhältnissen und der hohen Exposition gegenüber Naturrisiken schränken weitere Faktoren die Kleinbauern ein: fehlende Investitionsmöglichkeiten, die einen niedrigen agrartechnologischen Stand und eine unzureichende Infrastruktur bedingen, geringer Zugang zu Märkten, eine hohe Abwanderungsquote aus ländlichen Gebieten sowie eine schwache Vertretung in politischen Debatten.
Schlechte politische Rahmenbedingungen für Kleinproduzenten. Nachdem auch der haitianische Agrarsektor im Jahr 2012 von Wirbelsturm Sandy getroffen wurde, bekräftigte die haitianische Regierung ihre Entschlossenheit zur Durchführung einer Agrarreform und kündigte an, Haiti solle bis 2017 in der Lage sein, die Nahrungsmittelversorgung zu 60 bis 70 Prozent aus eigener Produktion zu gewährleisten (AlterPresse 2012; Joseph 2013). Bislang werden allerdings vor allem große agrarindustrielle Vorhaben gefördert, während nur wenig investiert wird, um die ökologische Situation Haitis zu verbessern und eine nachhaltige Landwirtschaft zu unterstützen, von der Kleinbauern profitieren würden und die helfen könnte, lokale Gemeinschaften zu ernähren.
Einige Beobachter behaupten, dass Geber, insbesondere der Internationale Währungsfonds, die Weltbank und die Vereinigten Staaten, nach wie vor die Vision einer exportorientierten agrarindustriellen Entwicklung verträten und förderten (Kennard 2012), die in den 1980ern mit den vom Internationalen Währungsfonds und der Weltbank empfohlenen Strukturanpassungsprogrammen begonnen hat. Diese Programme leiteten kein breit angelegtes Wachstum des haitianischen Agrarsektors ein. Vielmehr profitierte nur eine kleine Elite und die Importabhängigkeit stieg noch an. Das Problem der Importabhängigkeit wurde durch massive Nahrungsmittelhilfelieferungen, die zusätzlich Nahrungsmittel auf den haitianischen Markt brachten, ohne lokale Produktion und Selbsthilfekapazitäten zu berücksichtigen, weiter verschärft. Schädliche politische Maßnahmen, wie zum Beispiel die niedrigen Einfuhrzölle für Reis, erschwerten es lokalen Produzenten, mit den billigen Importen zu konkurrieren. Die Abhängigkeit von Importen machte die Haitianer besonders anfällig gegenüber Nahrungsmittelpreisschwankungen auf dem Weltmarkt und erhöhte die Ernährungsunsicherheit der ärmsten Bevölkerungsgruppen.
Eine weitere Herausforderung ist das Fehlen eines ressortübergreifenden Ansatzes für Ernährungssicherheit. Während das Landwirtschaftsministerium dafür zuständig ist, die Nahrungsmittelversorgung zu gewährleisten, trägt das Gesundheitsministerium die Verantwortung für Ernährungsfragen. Es ist noch unklar, ob Haitis Entscheidung, der internationalen Initiative Scaling Up Nutrition (SUN) im Juni 2012 beizutreten, von einer ausreichenden politischen Entschlossenheit getragen wird, sich sektorübergreifend verstärkt gegen Mangelernährung zu engagieren.
TABELLE 4.1
Durchschnittliche Getreideerträge in Kuba, der Dominikanischen Republik und Haiti, 1993–2011
Land |
Durchschnittliche Getreideerträge (Kilogramm/Hektar) |
1993–1997 |
1998–2002 |
2003–2007 |
2008–2011 |
Kuba |
1,859 |
2,632 |
2,874 |
2,325 |
Dominikanische Republik |
3,832 |
4,073 |
4,052 |
3,299 |
Haiti |
947 |
912 |
947 |
941 |
Quelle: Weltbank (2013a).
Anmerkungen: Getreideernte in Kilogramm pro abgeerntetem Hektar; umfasst Weizen, Reis, Mais, Gerste, Hafer, Roggen, Hirse, Sorghum, Buchweizen und Mischgetreide. Produktionszahlen für Getreide beziehen sich ausschließlich auf Feldfrüchte, die als Trockenkörner geerntet werden. Getreide, das als Heu oder grün als Nahrungsmittel, Futtermittel oder Silage geerntet oder abgeweidet wurde, ist ausgeschlossen. Die FAO ordnet die Produktionsdaten dem Kalenderjahr zu, in dem der Großteil der Ernte stattgefunden hat.